Kind springt im Regen über den Rathausplatz in Vaduz

„Es hat uns auch nicht geschadet“

Sätze wie „Wir sind auch gross geworden“ oder „Es hat mir auch nicht geschadet“ höre ich häufiger als mir lieb ist. Immer dann, wenn ich etwas „anders“ mache als es die Person kennt. Oder gar nichts mache. Und immer ist es eine Person aus vorherigen Generationen. Dabei würde ich am liebsten fragen: „Bist du sicher?

Natürlich wurde jeder gross, keine Frage. Aber Überleben allein kann ja nicht das Ziel sein? Nun gut, vermutlich war es früher tatsächlich so, in den damals noch kinderreichen Familien zu ärmeren Zeiten. Das oberste Gebot war, alle irgendwie durchzubringen. Aber ist es deswegen egal, wie wir aufwachsen? Nein, ist es nicht!

Eine überflüssige Rechtfertigung

Aber zurück zu den Floskeln, die vermutlich nicht viel mehr sind als eine Rechtfertigung, dass man selber oder die Eltern es nicht falsch gemacht haben. Selbstschutz quasi. Doch so eine Rechtfertigung ist nicht nur überflüssig, sondern weckt in mir auch sofort Angriffslust.

Nein, das ist natürlich auch nicht richtig und ich hüte mich auch meist davor, der Person etwas in der Art zu sagen, wie: „Schau Dich doch an, bist Du glücklich? Nimmst Du nicht sogar Antidepressiva? Sieht nicht danach aus als hätte es Dir nicht geschadet.

Das denke ich nur. Genauso wie ich denke: „ja, gross geworden schon, aber wie?“ Jeder, auch wir, kann sich selber fragen, was er für ein Päckchen aus seiner Kindheit mitgenommen hat. Oder wie es wäre, wenn die Eltern anders gehandelt hätten.

Und natürlich ist mein Umgang mit meinen Kindern jetzt und heute keine versteckte Kritik an ältere Generationen, die impliziert, sie hätten ihrem Kind mutwillig schaden wollen.

Sie wussten es einfach nicht besser…

Die meisten handelten genauso wie wir heute, aufgrund von Ratgebern. Bücher und Fachpersonen. Nur war das damals eben nicht „Geborgene Babys“, sondern „Die deutsche Mutter und ihr Kind“. Dieser Ratgeber wurde nach dem Nationalsozialismus nämlich nicht eingestampft, sondern bereinigt und fröhlich weiter verlegt und verschenkt.

Dieses Gedankengut wirkt also bis heute nach wenn uns jemand weismachen will, dass Schreien lassen die Lungen kräftigt.

Es ist die schwarze Pädagogik mit ihren Mitteln. Manipulation, Drohung, Erpressung, Bestrafung und schlimmeres. Und diese Mittel hallen selbst in mir nach, denn besonders als ich es noch nicht besser wusste und heute, wann immer ich zu sehr an meine Grenzen stosse, ertappe ich mich dabei, wie ich diese nutze oder kurz davor bin, es zu tun.

Dabei wage ich zu behaupten, dass meine Eltern mich überhaupt nicht autoritär erzogen haben, sondern sehr liebevoll.

Gewalt brennt sich ins Gedächtnis…

Aber da sieht man wie sehr sich uns all dies auf vielen Wegen eingeprägt hat, selbst wenn wir es am eigenen Leib gar nicht so sehr erfahren mussten. Ich erinnere mich an diese Mittel also eher nicht bei meinen Eltern. Nur ein einziges Mal gab mir meine Mutter eine Ohrfeige. Und meine Lehrerin. Und beides weiss ich, als wäre es gestern gewesen.

So viel zum Thema, dass ein Klaps „nicht schadet“, wenn er sich so ins Gedächtnis brennt, dass er noch über 30 Jahre später präsent ist. Noch in der Generation meines Vaters waren Schläge in der Schule an der Tagesordnung. Nie vergesse ich die Geschichte, wie mein Grossvater eines Tages wütend zur Schule ging, um den Lehrer zusammen zu stauchen, der meinem Vater Gewalt antat.

Gewalt geht auch ohne Schläge…

Diese Geschichte hat mich ebenso beeindruckt weil sie in meinen Augen von grossem Mut zeugt, den mein Grossvater damals aufgebracht haben musste, um eine Autoritätsperson in seine Schranken zu weisen und für sein Kind einzustehen. In einer Zeit, in der Schläge eben vermutlich noch normal waren.

Der Lehrer hat, soweit ich weiss, zumindest bei meinem Vater nie mehr Hand angelegt. Heute schützt das Gesetz Kinder vor Gewalt. Auf dem Papier jedenfalls…

Das heisst leider nicht, dass es sie nicht gibt und dass man, nur weil man sein Kind nicht schlägt, ohne Gewalt erzieht. Ein Ziehen am Ohr, ein Schütteln oder, fast noch schlimmer, psychische Gewalt, sind mit Sicherheit noch immer da.

Wann immer wir in einer Situation nicht weiter wissen, machen wir das, was wir aus unserer Kindheit kennen. Es ist ein Notfallprogramm, das vermutlich auch unsere Eltern angewendet haben.

Weg vom „Eltern-Automaten“

Jesper Juul nannte dies den „Eltern-Automaten“, der uns ausgerechnet die Sätze von damals ausspucken lässt, die uns doch selber so sehr gestört haben. Es gibt nur einen Weg hinaus aus diesem Teufelskreis. Wir müssen positive Alternativen trainieren, sie uns einverleiben.

Denn nur so verhindern wir, dass wir automatisch so reagieren, wie wir es eigentlich gar nicht wollten. Vielleicht sollten wir uns mal die ganzen Floskeln notieren, die wir in Notsituationen von uns geben und uns schlaue Alternativen einfallen lassen.

Wenn wir diese dann „einstudieren“, solange wir noch nicht auf 180 sind, haben wir eine reelle Chance, während eines Konfliktes die Ruhe zu bewahren und unser Kind weder zu erpressen noch sonst irgendwas. Und diese positiven Erfahrungen wird es irgendwann vielleicht unseren Enkelkindern weiter geben und der Kreislauf ist durchbrochen…

Kinder halten uns den Spiegel vor

Ganz zu schweigen davon sind Kinder nicht dumm. Wie man in den Wald hinein ruft, so kommt es zurück. Stellen wir unserem Sohn z.B. die Bedingung „erst lernen, dann fernsehen“, kommt postwendend zurück: „ich lerne erst, wenn ich fernsehen durfte.“

So wie wir unsere Kinder behandeln, behandeln sie uns. Der Grosse ist ein wahrer Meister darin, uns den Spiegel vor’s Gesicht zu halten und den Spiess umzudrehen. Allein deswegen lohnt es sich, andere Wege zu finden.

Aber zurück zum Schaden. Ich bin überzeugt, dass die schwarze Pädagogik sehr wohl bei vielen Menschen ihre Spuren hinterliess. Ich sehe verbitterte Menschen. Menschen, die Tabletten schlucken oder trinken.

Menschen, die zu Gewalt neigen und Menschen, die nicht fähig sind, eine gesunde Beziehung zu führen. Menschen, die stark an sich zweifeln und Menschen, die ständig andere gängeln. Menschen, die missgünstig sind.

Diesen Menschen hätte wohl eine grössere Portion Liebe, Vertrauen, Empathie und Würde in ihrer Kindheit gut getan.

Niemand ist perfekt, Eltern sein ist Lernen

Das heisst nicht, dass unsere Generation, die sich vermehrt der bindungs- und bedürfnisorientierten Elternschaft verschrieben hat, die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Niemand ist perfekt. Wir alle lernen. Die Elternschaft ist eine Prüfung für’s Leben.

Ich kann noch so sehr predigen, wie ich mit meinen Kindern umgehe, das heisst noch lange nicht, dass ich es selber immer umsetzen kann. Es gibt Tage, da läuft es wie am Schnürchen und es gibt Tage, da bricht alles zusammen.

Aber das macht es spannend. Ich lerne jeden Tag dazu, kann mich reflektieren und an meinen Erfahrungen wachsen. Nicht zuletzt ist diese so wahnsinnig anstrengende „Elternarbeit“ auch eine Arbeit an uns selbst. In den Konflikten mit unseren Kindern stossen wir auf unser eigenes, inneres Kind.

Es gibt Dinge, die uns masslos triggern und diese zeigen immer auf unsere eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in der Kindheit. Unsere Kinder bringen uns so regelmässig dazu, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Wir müssen es nur wollen. Und das kann sehr erhellend und erlösend sein.

Nicht nur die Erziehung prägt

Wir sind mit Sicherheit auf einem guten Weg, aber die Überreste von früher tragen die meisten noch mit sich. Und klar wäre es schön, wenn jeder seine Kinder völlig gewaltfrei erziehen könnte und würde. Vielleicht wäre die Welt dann eine bessere, vielleicht aber auch nicht.

Weil jedes Kind schon mit einem ganz bestimmten Charakter geboren wird und wir nicht die einzigen sind, die es beeinflussen.

Auf unserem Planeten herrscht eine grosse Vielfalt an Menschen, Werten und Lebensumständen, welche die Erziehung prägen. Wir werden auch in Zukunft alle „gross“ werden. Die Frage ist nur, wie. Und das wie, das haben die Eltern selber in der Hand. Wir können ihnen Denkanstösse liefern und die Ratgeber schenken, die wir für gut halten. Damit ist schon viel getan.

Akzeptanz oder Neugier

Und was all die Weggefährten betrifft, die gerne einwerfen, dass sie auch gross geworden sind. Ich wünsche mir von Euch, dass Ihr diese Phrase begräbt und anstatt dessen einfach akzeptiert oder aber fragt. Fragt doch, warum ich etwas so und nicht so mache oder eben nicht.

Ich kann es vielleicht begründen, erklären. Und ihr seid um eine Erfahrung reicher und konntet Euren Horizont erweitern. Vielleicht gibt es einen wertvollen Austausch. Und vielleicht sagt Ihr dann sogar: „Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst.“ Oder: „Ich wünschte, meine Eltern hätten das auch so gemacht.

Oder wie seht Ihr das?

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7 comments
    1. Du sprichst mir aus der Seele!

      1. 💖💕

  1. Ein toller Artikel!
    Und: „Ich wünschte auch, ich hätte das schon früher gewusst und meine Eltern hätten das auch so gemacht und mir würde es auch immer so gelingen…“
    Liebe Grüße

    1. Dankeschön 😍💖✊🏻 Wichtig ist, dass wir uns dessen bewusst sind. Das ist schon ein grosser Schritt…

  2. Wir waren 6 Kinder zuhause.
    Da gab es keinen Tag wo nicht einer oder mehr den Hintern vollgekriegt haben!
    Aber Hosen runter und dann gabs!

    1. Das tut mir sehr leid… 🙁 Klingt alles andere als nach einer schönen Kindheit…

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