Key Visual Kampagne Kinderkrebs Schweiz - Wenn die Kasse nicht zahlt

Kinderkrebs: Wenn die Kasse nicht zahlt

Anlässlich des heutigen internationalen Kinderkrebstages (15. Februar) macht Kinderkrebs Schweiz auf ein oft verkanntes, dafür umso drängenderes Problem aufmerksam: Obwohl es den Ärzten heutzutage gelingt, mehr als 80% der krebskranken Kinder zu heilen, lehnen Schweizer Versicherer immer noch allzu häufig die Kostenübernahme von lebensrettenden Therapien ab. Vor allem dann, wenn ein Kind nicht auf die Standardtherapie anspricht oder der Krebs zurückkommt.

Betroffene Eltern sind nicht ohne Grund oft genug schockiert. Es besteht eine Chance, dass ihr krebskrankes Kind geheilt werden kann, doch nun will die Krankenkasse die Kosten für die Therapie nicht übernehmen. Und das in der Schweiz… Wir haben Frau Dr. Tinner, Onkologin und Hämatologin in Bern, zu diesem Theme befragt. 

Frau Dr. Tinner, dringend notwendige Medikamente und Zusatztherapien werden oft nicht oder erst nach sehr viel bürokratischem Aufwand bezahlt. Woran liegt das? 
Dr. Eva Maria Tinner:
Damit Arzneimittel über die obligatorische Krankenpflegeversicherung vergütet werden, müssen sie zugelassen sein, ärztlich verordnet werden und sich auf der sogenannten Spezialitätenliste befinden. In Einzelfällen gibt es aber eine Ausnahmeregelung: Mittels Kostengutsprachen kann unter bestimmten Bedingungen die Vergütung über die Krankenkassen erfolgen.

Langwierige und zähe Kostenübernahmeprozesse

Weil die meisten Medikamente, die für krebskranke Kinder verwendet werden, eigentlich nur für Erwachsene zugelassen sind, erfolgt deren Kostenübernahme grösstenteils über diese Ausnahmeregelung. In diesem Zusammenhang erleben wir immer wieder langwierige und zähe Kostenübernahmeprozesse bis hin zur endgültigen Ablehnung.

Können Sie Beispiele nennen, bei denen die Kostenübernahme verweigert wird? 
Das kann zum Beispiel in komplexen Fällen wie bei Rezidiven (Rückfälle, Anm. d. Bloggerin) sein oder wenn es darum geht, bestimmte Arzneimittel in einer kindgerechten Darreichungsform zu verschreiben, also einen Sirup statt Tabletten zu wählen, weil das Kind zu klein ist. Für uns Kinderonkologen bedeutet dies einen grossen zeitlichen Aufwand und für Eltern ist diese unsichere Situation eine doppelte Belastung.

Kinderkrebs erfordert ein rasches Handeln

Onkologin Dr. Eva Maria Tinner
Onkologin Dr. Eva Maria Tinner

Zum einen können sie die Behandlungskosten nicht immer selbst finanzieren, zum anderen fehlt ihnen die Sicherheit, dass ihr Kind Zugang zu den besten Therapiemöglichkeiten hat. Und man muss vor allem auch wissen, dass dabei wertvolle Zeit verloren gehen kann, denn Krebs bei Kindern ist besonders aggressiv und erfordert ein dementsprechend rasches Handeln. 

Warum lassen die Pharmafirmen nicht einfach mehr Medikamente, die für die Behandlung von Kindern notwendig sind, auf der Spezialitätenliste registrieren? 
Kinderkrebs macht gerade mal 1% aller Krebserkrankungen aus. Eine solche Registrierung ist für die Pharmafirmen für eine geringe Fallzahl von Patienten mit einem zu grossen Aufwand verbunden. Im Registrierungsprozess muss den Behörden anhand von Studien bewiesen werden, dass die Medikamente sicher, wirksam und wirtschaftlich sind.

Aus wirtschaftlichen Gründen wird hauptsächlich für erwachsene Krebspatienten geforscht. Diese Daten liegen bei neuen Medikamenten oft nur für Erkrankungen bei Erwachsenen und nicht für Kinder vor. Deshalb werden sie von den Versicherern dann auch nur bei Erwachsenen übernommen.

Warum werden nicht mehr Krebsmedikamente speziell für Kinder entwickelt und auf den Markt gebracht? 
Die Krebsformen, die im Kindes- und Jugendalter vorkommen, sind seltene Erkrankungen. Folglich ist der Markt für Medikamente, die zur Behandlung von Kinderkrebs gebraucht werden, sehr klein. Es lohnt sich deshalb für die Pharmafirmen nicht, Medikamente, die praktisch nur bei Kinderkrebs benutzt werden, registrieren zu lassen. 

Wie oft werden Sie, bzw. Ihre Patienten und deren Eltern, mit solchen Problemen konfrontiert?
Eigentlich trifft es jede Familie mit einem krebskranken Kind. In einer Befragung der neun kinderonkologischen Zentren wurde erhoben, dass 10% der Standardtherapien abgelehnt werden. Dies obwohl sie im Rahmen von internationalen und von Swissmedic genehmigten Protokollen, an denen auch die Schweiz teilnimmt, verwendet werden.

Kinderkrebs als emotionale und finanzielle Belastung

Bei komplexen Fällen und bei Rezidiven erleben wir in 50% der Fälle eine erstmalige und in 20% der Fälle eine definitive Ablehnung. Dann bleibt den Eltern nur noch übrig, auf eine Stiftung zu hoffen, die sie unterstützen möchte, oder die Therapie ihres Kindes selbst zu finanzieren, vorausgesetzt, sie können es sich leisten.

Insgesamt bedeutet die Krebserkrankung eines Kindes nicht nur eine emotionale, sondern eben auch finanzielle Belastung für die Familie. Würden Arzneimittel, die sich seit Jahrzehnten im Rahmen von Standardtherapien bewährt haben, automatisch in die Liste aufgenommen werden, würde sie das entlasten.

Wie gross ist der administrative Aufwand für diese Anträge? 
Wenn die Kosten für eine Behandlung vom Versicherer abgelehnt wurden, beginnt für uns Kinderonkologen oft ein Wettlauf gegen die Zeit. Wir müssen andere Finanzierungsmöglichkeiten für die Therapien finden. Aber weil Kinderkrebs so aggressiv ist, darf sich die Therapie eigentlich nicht verzögern.

Die mühsame Suche nach alternativen Lösungen und die zahlreichen Rekurse, die wir gegen ablehnende Entscheide der Versicherer einlegen müssen, dürfen nicht weiter auf Kosten unserer Patientinnen und Patienten gehen. Hier muss sich dringend etwas ändern. 

Wettlauf gegen die Zeit

Wie lange dauert es im Schnitt bis die Versicherer die Kostenübernahme zusichern und in welchem Verhältnis steht das mit der Zeit, in welcher die Therapie beginnen sollte? 
Die Versicherer dürfen sich 10 Arbeitstage Zeit nehmen, um einen solchen Antrag zu bearbeiten. Da ihre Vertrauensärzte aber zumeist nicht über das für eine Beurteilung notwendige Fachwissen verfügen, gibt es häufig Nachfragen. 

Das zieht langwierige Abklärungsprozesse nach sich und kostet wertvolle Zeit. Eine Zeit, die unsere kleinen Patientinnen und Patienten nicht haben. Denn, wenn ein Kind Krebs hat und die Diagnose gestellt ist, müssen wir sofort mit der Behandlung beginnen. Da kommt es relativ häufig vor, dass wir erst nach Gabe der Medikamente das Kostengutsprachegesuch stellen können.

Key Visual Internationaler Kinderkrebstag 2023

Was muss sich ändern, damit die Krankenkassen schneller reagieren und Kosten eher übernehmen?
Besonders problematisch ist die Situation bei komplexen Fällen oder bei Rezidiven: Falls die Erstbehandlung nicht anschlägt oder es zu einem Rückfall kommt, gibt es bei seltenen Krankheiten wie Kinderkrebs, meist kein Behandlungsprotokoll, mit dem sich der therapeutische Nutzen bei den Versicherern eindeutig nachweisen lässt.

Gerade in diesen Fällen ist das Wissen der Vertrauensärzte, die keine Fachexperten sind und Kostengutsprachen aus verschiedenen medizinischen Bereichen beurteilen müssen, in einem so seltenen und hochspezialisierten Bereich leider oft unzureichend.

Die finanzielle Situation kann sich quasi über Nacht verändern.

Um eine Ungleichbehandlung von Patienten je nach Krankenkasse oder kantonaler IV-Stelle in strittigen Fällen zu vermeiden, sollte als Unterstützung des vertrauensärztlichen Dienstes und zur Evaluation eines therapeutischen Nutzens einer nicht standardisierten Behandlung, der Einbezug eines bindenden und unabhängigen Expertengremiums aus dem Bereich der Kinderonkologie zum Zug kommen.

Dazu müsste die  Politik die gesetzlichen Rahmbedingungen dahingehend anpassen, wie es auch der Dachverband Kinderkrebs Schweiz fordert. 

Mit welchen Herausforderungen sind betroffene Familien sonst noch konfrontiert? 
Die lebensbedrohliche Diagnose Krebs bei einem Kind zieht der Familie im ersten Moment komplett den Boden unter den Füssen weg. Die finanzielle Situation kann sich quasi über Nacht verändern, wenn ein Elternteil aufgrund der Krankheit sein Arbeitspensum reduzieren muss. 

Hinzu kommen viele Mehrkosten, mit denen die Eltern nicht gerechnet haben und die das Familienbudget schnell sprengen können. Dazu gehören zum Beispiel Fahrt-, Park- und Verpflegungskosten, aber auch Kosten für wichtige Hilfsmittel wie Handschuhe, Medikamententeiler, Schienen, Rollstühle usw.

Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten

All das wird noch seltener von der Grundversicherung übernommen als Medikamente. Die aktuelle Situation bei der Medikamentenrückerstattung belastet Mütter und Väter, die um das Leben ihres Kindes bangen, zusätzlich.

Die vom Bund aktuell geplante Reform der Krankenversicherungsverordnung, die für die Zulassung noch mehr Wirknachweise aus kontrollierten Studien als bisher vorsieht, wird diese Problematik verschärfen und den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten für krebskranke Kinder weiter verschlechtern. Das darf nicht passieren.

Vielen Dank für das Interview, Frau Dr. Tinner. 


Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Kampagne „Kinderkrebs: Wenn die Kasse nicht zahlt“ von Kinderkrebs Schweiz. 

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