Schattenkinder Kampagne Kinderkrebs Schweiz

Schattenkinder – wenn Geschwister an Krebs erkranken

Schattenkinder“ heisst die neue Sensibilisierungskampagne von Kinderkrebs Schweiz. Sie thematisiert für einmal die Herausforderung betroffener Eltern mit den gesunden Geschwisterkindern von krebskranken Kindern. Sie kämpfen nicht nur ums Überleben eines kranken Kindes, sondern auch darum, dass die sprichwörtlich im Schatten stehenden Geschwisterkinder genügend Aufmerksamkeit bekommen. Denn auch diese Kinder leiden, sorgen sich und müssen gleichzeitig im veränderten Alltag bestehen…

Ich durfte Daniela Dommen interviewen. Die Erkrankung ihres Sohnes liegt schon einige Jahre zurück. Als Mutter von vier Kindern berichtet sie von ihrer Erfahrung und wie sich diese Zeit bis heute auf ihre Familie auswirkt.

Kinderkrebs Schweiz setzt sich für Familien krebskranker Kinder ein und macht sich auf politischer Ebene für sie stark, damit diese die dringend benötigte Unterstützung erfahren können. Mehr dazu auf der Kampagnen-Seite.

Daniela Dommen Kinderkrebs Schweiz
Daniela Dommen. Bild: zVg

Frau Dommen, Ihr Sohn ist vor vielen Jahren an Leukämie erkrankt und konnte geheilt werden. Wie lange dauerten die Behandlung und damit auch die Sorgen um ihren Sohn schlussendlich an?
Unser Sohn Michael* erkrankte mit 10 Jahren an einer Akuten-lymphatischen-Leukämie (ALL). Die Behandlung dauerte ca. 2 ½ Jahre und die Sorgen sind bis heute geblieben. Am Schlimmsten war für uns aber die erste Zeit, als wir lernen mussten, mit dieser lebensbedrohlichen Krankheit umzugehen.

Michael musste sich zunächst einer intensiven Chemotherapie im Spital unterziehen, gefolgt von einer Erhaltungstherapie. Letztere wurde ambulant durchgeführt und dauerte circa 1 ½ Jahre. Das war eine sehr anstrengende Zeit für uns alle. Er musste sich einmal pro Woche untersuchen lassen und immer war die Angst da, dass der Krebs vielleicht zurückkommen könnte.

Am Anfang hat uns die Krankheit wortwörtlich den Boden unter den Füssen weggezogen. Dann haben wir realisiert, dass es besser ist, im Moment zu leben und einen Schritt nach dem anderen zu machen. Rückblickend staune ich, wie wir das als Familie gemeistert haben und ziehe meinen Hut vor jeder anderen, die Ähnliches durchmachen muss. Wir hatten das Glück, ein gutes soziales Umfeld zu haben, das uns gestützt hat.

Trotzdem hatten wir in dieser Zeit grosse Angst und bei uns allen sind seelische Wunden zurückgeblieben. Diese Erfahrung hat uns aber nicht geschwächt, sondern sie hat uns viel Kraft gegeben. Unsere Prioritäten haben sich verändert und nur das wirklich Wichtige ist geblieben: die Familie und die Liebe zu jedem Menschen.

Wie geht es Ihrem Sohn heute und wie hat er diese lebensbedrohliche Erfahrung verarbeitet?
Michael ist inzwischen erwachsen, aber die Spätfolgen sind sein ständiger Begleiter. Michael ist gross und stark. Und wir Eltern müssen auch lernen, loszulassen. Er trägt diese Bürde nicht immer gleich gut, aber er ist eingebettet in ein Netz, das ihm dabei hilft. Aus diesem Grund ist auch die Arbeit von Kinderkrebs Schweiz für uns so wichtig.

Wir haben gelernt, den Kindern gegenüber gnadenlos ehrlich zu sein.

Sie gibt uns die Sicherheit, dass unser Sohn eine Anlaufstelle hat, die ihn berät und informiert. Dafür bin ich von Herzen dankbar. Ich wüsste nicht, wie ich sonst mit meinen Ängsten, die wohl nie enden werden, umgehen würde. Denn für Eltern bleibt ein Kind immer ein Kind – bis zum letzten Atemzug.

Sein Überleben rückte vom einen auf den anderen Tag in den Fokus. Wie haben seine Geschwister damals reagiert?
Zum Zeitpunkt der Diagnose bestand unsere Familie aus Michael, seinem gleichaltrigen Zwillingsbruder und unserem jüngsten Sohn, der damals vier war. Später kam noch unsere Tochter hinzu. Michaels Zwillingsbruder hatte zum einen Angst, dass er die gleiche Krankheit bekommen könnte, zum anderen, dass Michael vielleicht nicht überleben würde. Auf seine Frage, ob sein Bruder an der Krankheit sterben könnte, habe ich zunächst ausweichend reagiert. Aber er liess nicht locker, schliesslich habe ich ihm ehrlich geantwortet: «Ja, er kann daran sterben».

Wir haben gelernt, den Kindern gegenüber gnadenlos ehrlich zu sein. Dazu gehörte auch, keine Versprechungen zu machen, die wir nicht einhalten konnten. Das war oft schwer zu ertragen, aber es war unsere Realität. Michaels Zwillingsbruder wollte nie über seine Angst, Sorgen oder Unsicherheiten sprechen und wir haben diese Entscheidung akzeptiert. Er hat vielmehr versucht, seine Alltagsnormalität aufrecht zu erhalten, indem er sehr viel Zeit in der Nachbarschaft, bei seinem Freund und dessen Familie verbracht hat. Das hat nicht nur ihm, sondern auch uns sehr geholfen.

Schattenkinder reagieren unterschiedlich

Für Michaels jüngeren Bruder war es sehr schwierig. Er war noch zu klein, um wirklich zu verstehen, warum sein Mami ständig mit seinem grösseren Bruder weg war. Er unglaublich darunter gelitten, konnte es aber nicht verbalisieren. Seine Reaktion bestand zunächst in unkontrollierten Wutausbrüchen, später hat er dann eine tiefe Angst gegenüber dem Leben überhaupt entwickelt.

Wir haben uns deshalb Hilfe von aussen geholt, aber es wurde ein langer Weg, bis er sich wieder einigermassen gefangen hatte. Heute ist auch er erwachsen und geht seinen Weg. Ich bin unglaublich stolz auf unsere Kinder. Sie haben alle gelernt, genau hinzuschauen, keinen Schuldigen zu suchen, sondern an sich selbst zu arbeiten. Dies war und ist ein langer Weg, der wohl nie zu Ende sein wird.

War Ihnen bewusst, dass sie trotz diesem Fokus und der Sorgen um ihren Sohn auch für ihre anderen Kinder da sein müssen?
Das war mir von Anfang an schmerzlich bewusst, weil ich es nicht wirklich sein konnte. Aber wir haben ein gutes Umfeld. Das hat es mir möglich gemacht, meine zwei anderen Kinder loszulassen und darauf zu vertrauen, dass gut für sie gesorgt ist. Ich bin heute noch unglaublich dankbar dafür, dass sein Bruder bei unseren benachbarten Freunden eine Art Ersatzfamilie gefunden hat. Sein jüngerer Bruder wurde von meiner Schwiegermutter umsorgt. Sie wohnt direkt neben uns und pflegt zu jedem unserer Kinder ein inniges Verhältnis.

Wir haben uns bewusst für ein viertes Kind entschieden. 

Dann gibt es noch meinen Mann, der Unglaubliches geleistet hat. Nichtsdestotrotz konnten wir ihnen nicht gerecht werden. Diese Zeit war auch für unsere Beziehung als Paar unglaublich strapaziös, doch im Nachhinein wurden wir dafür belohnt. So eine starke Beziehung, wie wir sie haben, wünsche ich meinen Kindern in ihrer Partnerschaft: Getragen von grossem Vertrauen, gegenseitigem Respekt und einer tiefen Liebe, die heute jedem Sturm standhält. Damit das funktioniert, muss man aber fortwährend daran arbeiten.

Was hat ihnen dabei geholfen?
Was uns sicherlich auch geholfen hat, war die bewusste Entscheidung für ein viertes Kind. Für mich war die Familienplanung vor Michaels Diagnose noch nicht abgeschlossen. Aus medizinischen Gründen waren wir gezwungen, während seiner Krankheit zu entscheiden, ob wir noch ein weiteres Kind wollten oder nicht.

Ich habe zu ihm gesagt: «Wenn du nein zu einem vierten Kind sagst, weil du Angst hast, dass es vielleicht krank oder behindert ist und wir das nicht tragen können, dann ist klar, dass unsere Familie komplett ist. Dann brauchen wir auch nicht weiter darüber zu sprechen. Lautet Deine Antwort aber nein, weil du findest, dass es mühsam ist, nochmals von vorne zu beginnen, da unsere anderen Kinder schon aus dem Gröbsten raus sind, dann müssen wir darüber reden.»

Vor diesem Hintergrund kam schliesslich unsere Tochter zur Welt. Über unsere Entscheidung hatten wir zuvor bewusst auch mit unseren anderen Kindern gesprochen und sie fanden sie toll. Einzig Michael musste zuerst die Gewissheit haben, dass ich auch mit dem Baby an seiner Seite bleiben würde, sollte etwas mit ihm sein. Unsere Jüngste hat vieles in uns geheilt, durch ihr sonniges Gemüt, ihr Vertrauen ins Leben und ihre unbelastete Seele.

Gingen die Geschwister unterschiedlich mit der Erkrankung ihres Bruders um?
Ja, was sicherlich auch dem Altersunterschied geschuldet war. Michaels Zwillingsbruder, der fünf Minuten älter als er ist, machte die Sache mehr oder weniger mit sich selbst aus. Dass wir nichts mehr planen konnten, war für ihn besonders schwer zu ertragen. Alles hing immer vom Gesundheitszustand seines Bruders ab. Deshalb war er oft wütend und eifersüchtig.

Uns war wichtig, offen über diese Gefühle zu sprechen, sie gehören zum Menschsein dazu. Auch wenn Michael sehr krank war, blieb er immer sein Bruder und umgekehrt. Für ihn war es eine Zeit voller Unsicherheit und Angst und wir konnten ihm vieles nicht abnehmen. Das zeigt sich auch darin, dass er später nie über diese Zeit sprechen wollte. Dies war und ist für mich nicht leicht, aber ich muss es akzeptieren. Es ist sein Weg und er bestimmt das Tempo und die Richtung.

Eine Grundeinstellung zum Leben

Für Michaels jüngsten Bruder war es extrem schwierig. Er war noch zu klein, um richtig mit ihm über das Thema zu sprechen. In den ersten zwei Jahren nach der Diagnose ging es für uns vor allem darum, zu überleben. Dabei hat uns alle die starke Liebe, die wir in unserer Familie füreinander empfinden, getragen. Als er grösser wurde, konnten wir mehr für ihn tun, seine Ängste, Ohnmacht und Narben aber konnten wir lange nicht beheben.

Unsere Tochter wiederum wuchs im Umfeld dieser Krankheit auf, da ich mich in der Kinderkrebshilfe engagierte. Sie lernte früh, dass das Leben das ist, was wir daraus machen. Auch ihre Kindheit verlief nicht ohne Hochs und Tiefs, aber wir haben immer aus allem das Beste gemacht, das halb volle und nicht das halb leere Glas gesehen. Diese Grundeinstellung zum Leben empfinde ich als eine Gnade und nicht jeder Mensch hat sie gleichermassen.

Wie war es für sie, diese unterschiedlichen Verhaltensweisen zu akzeptieren und darauf einzugehen?
Das war und ist eine grosse Herausforderung für mich. Da wir psychologische Hilfe in Anspruch genommen haben, konnten wir doch Einiges richten. Für mich ist wichtig, im Gespräch zu bleiben und wenn nötig, Hilfe zu holen. Ich verstehe das nicht als Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke und Mut. Wir Menschen können nicht alles alleine schaffen und wir müssen es auch nicht.

Gab es in dieser Zeit oder danach auch Vorwürfe seitens Ihrer Kinder?
Ja, die gab es eindeutig. Viele Vorwürfe wurden auch nonverbal platziert und trafen mich als Mutter mitten ins Herz. Ich musste mir psychologische Unterstützung holen, um mit dem schlechten Gewissen besser umgehen zu können, auch wenn ich weiss, dass wir unser Bestmögliches getan haben.  Unsere Kinder sahen das natürlich anders.

Ich habe vieles mit mir selbst ausgemacht. 

Die Auseinandersetzung mit Michaels Zwillingsbruder kam erst viele Jahre später. Ungefähr mit Achtzehn drangsalierte er mich und es hat eine Weile gedauert, bis ich es einordnen konnte. Also änderte ich mein Verhalten und siehe da, es klappte. Beispielsweise brauchte er mein Auto und tankte es danach nicht auf. Das hätte er sich bei seinem Vater nie getraut. Er hat mir oftmals gezeigt, dass er mehr Respekt für seinen Vater als für seine Mutter hatte.

Welche Rolle spielte ihr Mann während dieser Zeit?
Er spielte eine sehr zentrale Rolle, und ich bin zu tiefst dankbar, dass er an meiner Seite war. Wir hatten eine stille Übereinkunft: Ich kümmere mich um Michael, da ich beruflich aus der Medizin komme und er sich um die beiden Geschwisterkinder, zusätzlich zu seiner Arbeit. Das war für uns alle unglaublich hart. Da ich um seine Belastung wusste, habe ich ihn so gut wie möglich geschont und Vieles mit mir selbst ausgemacht.

Meine Erwartungen an mich selbst waren sehr hoch und es hat lange gedauert, bis ich sagen konnte, «ich kann nicht mehr». Hinzu kam, dass wir sehr wenig Gelegenheit hatten, uns richtig auszutauschen. Aber wir haben es geschafft, uns nicht aus den Augen zu verlieren und dem anderen immer wieder aufs Neue Respekt und die Toleranz entgegenzubringen. 

Gab es auch ausserhalb der Kernfamilie Unterstützung?
Wir hatten ein wunderbares Umfeld, nicht nur die Familie, sondern das halbe Dorf hat uns unterstützt. Ich war und bin ein sehr engagierter Mensch und diese Früchte durften wir ernten. Es tat mir oft in der Seele weh, wenn ich andere Familien sah, die dieses Glück nicht hatten. Das war mit ein Grund, mich zunächst bei der Kinderkrebshilfe Schweiz zu engagieren und später beim Aufbau von Kinderkrebs Schweiz mitzuwirken.

Ich bin glücklich, dass ich anderen Familien in einer ähnlich schlimmen Lage geholfen zu haben.  Natürlich gab es auch die Menschen, die nicht mit unserer Situation umgehen konnten und sich zurückgezogen haben. Das tat weh, aber wir hatten mit viel grösseren Dingen zu kämpfen: die Furcht vor dem Unbekannten und dem Tod waren da zu hoch, um uns entgegen zu kommen.

Was tat den Geschwisterkindern in dieser Zeit besonders gut?
Geholfen haben sicherlich die spontanen Feste, der Galgenhumor und das Ziel vor Augen, am besten einmal pro Tag, zu lachen. Das hatte ich mir in mein Tagebuch notiert, als ich lange Zeit mit Michael stationär im Spital war. Ich glaube, dass es extrem wichtig ist, offen und ehrlich mit den Kindern zu kommunizieren, natürlich altersgerecht. So haben wir immer versucht, sie mit einzubeziehen und nichts vor ihnen zu verstecken. Das war nicht immer einfach, hat sie aber auch ihre Sicht auf die Welt positiv verändert und sie zu sehr reflektierenden Menschen gemacht.

Exklusive Momente für Geschwisterkinder schaffen

Zudem haben mein Mann und ich bewusst Zeiten eingeführt, die wir alleine mit den Geschwistern verbracht haben. Es war uns wichtig, Momente zu schaffen, in denen nur sie im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Sonst ging es ja immer im Michael. Und wir haben sehr darauf geachtet, dass wenn er Geschenke erhielt, sie auch welche bekamen. Auch die Angebote der Kinderkrebshilfe, wie zum Beispiel die Familienferien, waren eine wichtige Auszeit, die uns allen geholfen hat.

Denken Sie im Nachhinein, dass sie etwas anders/besser hätten machen können?
Dies ist schwierig zu beantworten. Wir haben in dieser Situation das für uns Bestmögliche gemacht, mit all dem, was uns zu Verfügung stand. Mit unserer Liebe, die wir für jedes einzelne unserer Kinder empfinden. Mehr ging nicht.

Ist die Zeit der Erkrankung Ihres Sohnes heute noch Thema in Ihrer Familie? 
Das ist sie. Denn geheilt bedeutet eben nicht automatisch gesund. So wie rund 80 Prozent der Survivors hat auch Michel ein Spätfolgen-Risiko. Deshalb beschäftigt mich dieses Thema immer wieder. Aber wir wissen alle nicht, was morgen sein wird. Die Kunst des Lebens ist, das Beste aus der jetzigen Situation zu machen und loszulassen.

Ich hoffe, wir konnten diese Einstellung unseren Kindern mit auf den Weg geben. Wir haben aus den schlimmen Erfahrungen, die uns die Krankheit auferlegt hat, auch viel Gutes gelernt. Vielleicht empfinden das meine Kinder und andere krebsbetroffenen Familien auch als ein Geschenk. Ich staune manchmal, wenn ich sehe, was wir Menschen alles aushalten, aber auch daraus schöpfen.

Herzlichen Dank für dieses Interview & weiterhin nur das Beste für Ihre Familie!

* Name wurde auf Wunsch der Familie geändert.

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