Arzt-Patient-Gespräch

„Es geht um die Qualität des Überlebens“

Man kann Krebs bei Kindern oft gut behandeln, chirurgisch entfernen, die Krebszellen mittels Therapie zerstören. Aber auch wer als geheilt gilt, ist nicht automatisch gesund und ausser Gefahr. Nicht nur kann der Krebs zurückkommen, auch die Spätfolgen können zum Teil gravierend sein. Deswegen ist die regelmässige Nachsorge bei Survivors, den „Überlebenden“, bedeutend.

Rund 80% könnten an Spätfolgen leiden

Kinderkrebs Survivors | Nachsorge Krebs | Arzt misst Blutdruck

So besteht bei circa 80 Prozent ehemaliger Krebspatienten, die vor 15 bis 30 Jahren behandelt wurden, das Risiko, im Erwachsenenalter an den Spätfolgen von Krankheit und Therapie zu leiden. Oft sind diese Survivors selbst nicht genügend über diese Risiken informiert und auch das Umfeld weiss viel zu wenig darüber.

Denn das Ziel der damaligen Therapie war Überleben und nicht Nachsorge bezüglich Spätfolgen. Interessanterweise hat bereits 1975 ein berühmter Kinderonkologe, Giulio D’Angio, gesagt: „Cure is not enough“. Dies zu einer Zeit, als die allerwenigsten geheilt werden konnten – aber ein klarer Auftrag für die Zukunft.

Hier möchte Kinderkrebs Schweiz mit seiner Kampagne die Öffentlichkeit und Betroffene informieren und das Bewusstsein für das Thema Spätfolgen und die Nachsorge schärfen.

Kinderkrebs: geheilt, aber nicht ganz gesund

Dr. Katrin Scheinemann KSA
Dr. Katrin Scheinemann. Bild: zVg

Im Rahmen der Sensibilisierungskampagne „Kinderkrebs: geheilt, aber nicht ganz gesund“ vom Dachverband Kinderkrebs Schweiz konnte ich deshalb Dr. Katrin Scheinemann befragen. Sie ist Leitende Ärztin/Abteilungsleitung Pädiatrische Hämatologie/Onkologie der Klinik für Kinder und Jugendliche am Kantonsspital Aarau (KSA) und Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Pädiatrische Onkologie/Hämatologie FMH.

2018 lancierte sie das Projekt „Young Survivors KSA“, mit dem ehemalige, Krebspatienten im Kindes- und Jugendalter als junge Erwachsene fachübergreifend beim Wechsel von der Kinderklinik in die Erwachsenen-Betreuung begleitet werden.

Jedes Organsystem kann betroffen sein

Frau Dr. Scheinemann, auch nach der vollständigen Heilung benötigen ehemalige Kinderkrebspatienten eine intensive Nachsorge. Weil der Krebs jederzeit zurückkommen könnte?
Dr. Scheinemann: Zum Teil – in den ersten Jahren nach Abschluss der Therapie liegt das Augenmerk auf einem Rückfall, dann auf den Spätfolgen. Die Zeitspanne wird von der Tumorbiologie bestimmt – gewisse Tumoren können auch nach mehr als 5 Jahren noch zurückkommen.

Definieren Sie bitte „Spätfolgen von Krebs und der Therapie“? Mit was für Folgen haben die Survivors zu kämpfen und in welcher Häufigkeit treten diese auf?
Die Krebserkrankung und die Therapie können zu einer Schädigung von Organsystemen, aber auch zu langanhaltenden psychischen Auswirkungen führen. Jedes Organsystem kann betroffen sein. Dies hängt vom Alter bei Diagnosestellung, dem Tumor und der Lokalisation, der Therapie und genetischen Faktoren ab. Daher kann man auch keine generelle Häufigkeit angeben.

Key Visual Survivors Kinderkrebs
Bild: Kinderkrebs Schweiz

Sind diese Spätfolgen gut behandelbar oder kann es auch vereinzelt zu gravierenden Situationen kommen wie lange Spitalaufenthalte, erneute Chemo oder Bestrahlung, OPs etc.?
Das kann man nicht pauschal beantworten – es gibt Spätfolgen, die zum frühzeitigen Versterben führen können. Wir versuchen natürlich, durch regelmässige Nachsorge Spätfolgen früher zu entdecken und damit früher zu behandeln. Damit sind viele Spätfolgen behandelbar, aber nicht alle.

Die Expertise des Hausarztes ist gering

Was bedeutet intensive Nachsorge? Wie oft müssen sich Survivors in eine Kontrolle begeben und was wird dort standardmässig gemacht? Und kann dies auch der Hausarzt übernehmen oder müssen sie dafür ins Spital?
Auch das kann man nicht pauschal beantworten. Die Häufigkeit hängt von den Jahren nach dem Abschluss der Therapie statt sowie den festgestellten Spätfolgen. Es wird immer eine klinische Untersuchung gemacht, meist aber noch weitere Tests wie Blutentnahmen, Bildgebungen oder Funktionsteste.

Bei einem niedrigen Risiko für Spätfolgen und Kontrollen nur mittels klinischer Untersuchung und/oder Blutentnahme, wäre diese beim Hausarzt denkbar – nur ist dessen Expertise in diesem Gebiet sehr gering und er muss entsprechend instruiert werden.

Wird die Notwendigkeit dieser intensiven Nachsorge von Survivors und ihren Eltern gut akzeptiert und wird der Nachsorge gewissenhaft nachgekommen?
Ja, wenn man die Survivors und die Eltern – das Augenmerk liegt aber klar auf den Survivors – gut über die Notwendigkeit aufgeklärt hat. Die Nachsorge ist noch ein sehr junges Fachgebiet innerhalb der Kinderonkologie und aufgrund der grossen Anzahl an Überlebenden entstanden. Heute ist dies Standard, vor 15 Jahren oder noch früher hat man die Survivors und Eltern noch nicht so aufklären können wir heute – der Fokus war auf dem Überleben.

Der Survivor muss von der Nachsorge überzeugt sein

Was für Auswirkungen hat die Pubertät darauf oder andere Veränderungen wie Schulwechsel, Lehrbeginn? Wird es da phasenweise schwieriger?
Kaum – bis auf schwierigere Terminfindung. Wichtig ist halt – wie oben erwähnt – der frühzeitige Fokus auf den Survivor. Denn dieser muss von der Nachsorge überzeugt sein.

Wie können Survivors selbst das Risiko von Spätfolgen minimieren oder worauf müssen sie achten sprich bei welchen „Symptomen“ sollten sie von sich aus einen Arzt aufsuchen?
Für Survivor gelten die allgemeinen Gesundheitsempfehlungen wie ausgewogene Ernährung, regelmässiger Sport, nicht rauchen und Vorsicht bei der Sonnenexposition. Bezüglich Symptomen erfolgt eine individuelle Schulung der Survivors – abhängig von den gleichen Faktoren wie oben erwähnt.

Gesundheits-System

Sie haben letztes Jahr ein Pilotprojekt gestartet, indem sie Survivors eine gemeinsame Sprechstunde mit Kinder- und Erwachsenen-Onkologen bzw. -Hämatologen anbieten. Warum ist der Übergang von der Kinder- zur Erwachsenen-Betreuung so schwierig?
Diese „Transition“ ist per se nicht schwierig, sie muss nur gut organisiert sein. Die Survivors brauchen nach dem Verlassen der Kinderonkologie weiterhin regelmässige medizinische Expertise.

Dies funktioniert in den letzten Jahren in der Schweiz zunehmend besser. Fast alle Kinderonkologien haben entsprechende Sprechstunden inner- oder ausserhalb der Kinderspitäler organisiert.

Die Sprechstunden sind sehr individuell

Wann findet dieser Übergang idealerweise statt?
Theoretisch ab 18 Jahren, wenn die Patienten ihre Therapie schon vor mehreren Jahren abgeschlossen haben. Transition ist aber ein fliessender Übergang, in dem die Lebensumstände des Survivors ebenso berücksichtigt werden. Wir machen dies sehr individuell.

Was wird in diesen gemeinsamen Sprechstunden thematisiert?
Neben den fixen medizinischen Themen und dem psychologischen Screening und Fragen zu Ausbildung/Beruf und Lebensumstände, thematisieren wir alles, was dem Survivor wichtig ist – dies ist sehr individuell.

Sind diese Sprechstunden als einmaliger Termin für Survivors gedacht?
Nein – es sind mindestens zwei Termine: ein Termin gemeinsam in der Kinderklinik und der Folgetermin gemeinsam in der Erwachsenenonkologie. Wir Kinderonkologen ziehen uns dann aus der Betreuung zurück, wenn es für den Survivor stimmt. Aber die Betreuung in der Erwachsenenonkologie geht weiter.

Survivors sollen die gleichen Chancen haben

Können Sie noch ein paar Worte zu sich und Ihrer Arbeit sagen? Weshalb haben Sie sich für die pädiatrische Onkologie/Hämatologie entschieden und weshalb setzen Sie sich insbesondere auch für die intensive Nachsorge bei Survivors ein?
Wir Kinderonkologen werden an den Survivors beurteilt – es geht nicht nur um das Überleben, sondern auch um die Qualität des Überlebens. Unser Ziel wäre es, dass Survivors die gleichen Chancen bezüglich Ausbildung, Beruf, Familie, Freizeit etc. haben wie ohne die Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter.

Besten Dank für das Interview! 

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