Seit seinem Auftritt bei Markus Lanz im ZDF am 8. Oktober, ist Prof. Michael Schulte-Markwort kein Fremder mehr in der Szene der bedürfnis- und bindungsorientierten sowie auch unerzogenen Eltern-„Bewegung“. Indem er dem Moderator erklärte, dass Gummistiefel nicht lebenswichtig sind, erntete er ungläubige Blicke. Ich habe daraufhin gleich sein Buch „Familienjahre“ bestellt, um mehr über die Haltung des Kinder- und Jugendpsychiaters herauszufinden…
Der Titel erinnert natürlich an Largo (Baby-, Kinderjahre etc.). Aber da es nur eins ist, handelt es sich eher um eine Reise durch die Kindheit bis zur Adoleszenz in einer Nussschale. Inhaltlich beginnt „Familienjahre“ bereits beim Kinderwunsch. Die Kapitel wandern dann bis zum erwachsenen Kind und dazwischen gibt es immer mal wieder Briefe an das Kind, mit denen er den Leser dazu anregen möchte, selber in sich zu gehen und einen solchen Brief ans eigene Kind zu verfassen. Eine schöne Idee…
Verständlich und logisch
Relativ schnell bin ich logischerweise bei Markwort auf das Thema Stillen gestossen. Drum eins vorweg: das Langzeitstillen unterstützt er nicht. Er sieht keine Vorteile darin. Ich schätze mal, dass er sich einfach nicht genug damit auseinandergesetzt hat und ihm da beim Psychologie-Studium die übliche, konservative Denkweise eingeprägt wurde. Das ist schade. Ich habe deswegen aber das Buch nicht in die nächste Ecke geworfen, auch wenn ich es gerne getan hätte… 😛 Ihr kennt meine Einstellung!
Ansonsten darf man also Schulte-Markwort durchaus eine Chance geben, denn so verständlich, kurz und logisch wie er im Fernsehen argumentierte, schreibt er auch. Und er steht in „Familienjahre“ für die Werte ein, die ich auch propagiere, nämlich Beziehung statt Erziehung:
„Wenn Eltern auf ihre Beziehung zu ihrem Kind setzen und ihnen einfach vor-leben, wie Leben geht, dann müssen sie das Kind nicht irgendwohin (er)ziehen. Dann brauchen sie keine Sanktionen. Kein Geschrei, keinen Machtkampf (den sie ohnehin verlieren würden).“
Kinder brauchen eine Ja-Umgebung
Wenn man, erstmal nur mit Kinderwunsch, die ersten Seiten bei Markwort liest, erfährt man, was es bedeutet, Kinder zu bekommen: „Es ist das sicher grösste, ambitionierteste, wundervollste, erfüllendste und strapaziöseste Projekt, das man sich vorstellen kann. Eine Mischung aus Ultatriathlon, Marsexpedition und absoluter Glückseligkeit: anstrengend, abenteuerlich, berauschend. Eine Achterbahn der Gefühle.“ Sehr wahr…
Wenn es um die kindliche Entwicklung geht, plädiert Markwort, wie ich auch, für eine Ja-Umgebung. Er bestätigt, dass Kinder, die in der Entdeckerphase mit möglichst wenig Nein konfrontiert sind, sich freier und selbstbewusster bewegen. Und rät davon ab, alles mit dem „NATO-Draht der Pädagogik“ zu sichern.
Auch spricht er sich in „Familienjahre“ für eine bedürfnisorientierte Elternschaft aus, die nicht auf Kosten der Eltern geht, ergo, welche die Bedürfnisse der Eltern ebenso achtet.
Eltern sollten sich selbst um ihre Kinder kümmern können
Spannend fand ich auch seinen Part über das Thema Vereinbarkeit, das gerade bei Müttern oft zu Grabenkämpfen führt. Schulte-Markwort ist klar gegen eine zu frühe und intensive Fremdbetreuung und dafür, dass wir „dafür kämpfen, die Arbeitswelt so zu gestalten, dass sich Eltern ohne Einbussen an beruflichen Aussichten selbst um ihr Kind kümmern können – gleichberechtigt.“ Er verurteilt die Haltung, Mütter, Frauen seien nur etwas wert, wenn sie erwerbstätig arbeiten:
„Als wäre Mütterlichkeit nicht auch hochproduktiv und kostbar und mit einer unglaublichen Wertschöpfung verbunden.“
Auch Markwort ist wie ich dafür, diese Leistung „mit barer Münze“ zu honorieren. Mit Arbeitsplatzgarantien, der Möglichkeit zu doppelter Teilzeit von Mann und Frau, ohne finanzielle Einbussen und gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit. Aber so würden wir „ausgerechnet an jenen, die ungeschützt sind, an den Kleinsten, unsere Leistungsgesellschaft ausleben und bürden der Familie Lasten auf, die sie manchmal kaum stemmen kann.“
Keine Schuldgefühle, bitte!
Er schliesst das Kapitel mit dem Appell, zuhause zu bleiben, wenn es irgend geht, sich aber keine Schuldgefühle zu machen, wenn es anders nicht gehe:
„Sie sollen wissen, dass Sie Ihrem Kind nicht schaden, wenn Sie eine gute Kita gefunden haben und den Weg dorthin als Eltern gemeinsam engagiert begleiten.“
Auch die Haltung Schulte-Markworts in Bezug auf Schule und Lernen entspricht dem, was ich denke… Er spricht sich gegen Hausaufgaben aus und appelliert daran, dass Eltern und Lehrer wieder mehr in Partnerschaft gehen. Eltern rät er, in der Schulzeit Lotsen zu sein für ihre Kinder, ihnen beizustehen, sie zu leiten und im richtigen Moment von Bord zu gehen. „Das ist die Kunst: unterstützen, ohne zu entmündigen, helfen, ohne zu überfordern.“ Gar nicht so einfach…
Bevor der Autor nun zur Pubertät übergeht, behandelt er noch ein paar familiäre „Brennpunkt-Themen“, z.B. die gemeinsamen Mahlzeiten. Der Tisch ist für Schulte-Markwort das „Epizentrum der Familie, die Achse, um die sich alles dreht und unendlich viel bewegt wird.“ Studien würden zeigen, dass Familien, die gemeinsam essen, deutlich gesünder leben als solche, die es nicht tun, und auch miteinander reden… Also: esst mindestens 1x täglich gemeinsam, das sollte in jeder Familie drin liegen. Auch wenn es oft konfliktreich ist…
Kinder müssen nicht im Haushalt helfen…
Zum Thema Haushalt lesen wir eine Aussage, die so vermutlich bei den meisten für Erstaunen oder sogar Empörung sorgen wird. Schulte-Markwort ist nämlich der Meinung, dass Kinder im Haushalt fast nichts tun (müssen). Die Organisation des Familienlebens sei klar Aufgabe der Eltern. Die Kinder müssten mit den Ansprüchen der Schule bereits genug Aufgaben erfüllen. Man erspare sich mit dieser Haltung auch einen Haufen aufreibender Kämpfe.
Damit sollten wir jetzt erleichtert aufatmen, denn wir dürfen endlich ohne schlechtes Gewissen alles selber machen. Wir brauchen keine Angst zu haben, dass unsere Kinder nicht irgendwann selber einen Haushalt schmeissen können. Sie haben uns ja jahrelang zugesehen dabei. Auch dürfen wir keine Dankbarkeit von unseren Kindern erwarten, weil:
„Kinder haben sich nicht selbst gemacht. Von ihnen Dankbarkeit zu erwarten, zeugt von mangelndem Selbstbewusstsein der Eltern. Selbstsichere Eltern sind dankbar, dass sie diese wunderbaren Kinder erleben dürfen. (…)“
Machtkämpfe vermeiden
Also: weg mit den „häuslichen Pflichten“! Jedoch soll man willige Kinder natürlich nicht davon abhalten, etwas beizutragen und je kleiner desto eher wollen sie auch von sich aus mithelfen, weil sie es da eben noch nicht als Arbeit sehen.
Apropos Machtkampf. Davon rät der Autor wie bereits erwähnt ab. Denn wer sich in einen solchen begibt, habe bereits verloren. Droht ein solcher anzustehen, rät er zu Abstand. Und: „Gestehen Sie ihrem Kind eine eigene Meinung und Haltung zu, auch wenn diese sich gegen Sie richtet. Sie werden sofort spüren, wie in der Anerkenntnis plötzlich Raum entsteht, der es Ihnen beiden ermöglicht, abzulassen und neu aufeinander zuzugehen.“
Jetzt kommt etwas, das ich auch immer predige: Man sollte als Eltern immer prüfen, ob ihr Wunsch tatsächlich durchgesetzt werden muss. Ist er lebenswichtig, dann ja. Ist er einem wirklich wichtig: dann schafft man es auch, seinen Wunsch ohne Drohungen und Erpressungen oder lange Argumentation. Und im Übrigen glaubt auch Schulte-Marktwort, dass es nicht viele Neins braucht.
Pubertät „Light„
Ist es trotzdem zu einem Disput gekommen nachdem alle sauer sind und schmollen, sei es an den Eltern, wieder auf ihr Kind zuzugehen:
„Frieden entsteht durch Verzicht auf Positionen und Besitztümer! Erwachsene sollten das besser können als ihre Kinder und es vorleben.“
Nun kommen noch ein paar Worte zu den digitalen Medien und Videospielen, zu Freundschaft und schliesslich folgt das Kapitel Pubertät. Hier spricht der Autor von einer „Pubertät Light“, denn er ist der Meinung, dass die Pubertät heute leiser und unaufgeregter verlaufe. Eltern seien heute verständnisvoller, Jugendliche müssten weniger aufbegehren, was er als eine gute Entwicklung sieht.
Trotzdem erläutert er in diesem Kapitel, wie man als Eltern am besten mit den Herausforderungen in der Pubertät umgeht. Ich werde in ein paar Jahren hier also sicher nochmals reinlesen… 😉
Wenn Kinder ausziehen…
Und schliesslich folgt noch „Eltern allein zuhause“, denn wenn die Kinder ausziehen ist das noch einmal ein grosser und vor allem schwieriger Moment für die Eltern, den es (gemeinsam) zu überstehen gilt.
Den Schluss macht ein „Blick in die Mythenkiste“ und ein fiktiver Dialog mit Pippi, wie er ihn in seinem beruflichen Kontext als Psychiater führen würde. Mehr sei an dieser Stelle aber nicht verraten.
Am Ende jedes Kapitels fasst Schulte-Markwort nochmals in ein paar Sätzen die wichtigsten Erkenntnisse und Tipps zusammen. Diese kann man also auch schnell mal nachschlagen, wenn man nach einem Rat sucht.
Familienjahre – ein schöner Leitfaden
Mit „Familienjahre“ ist ihm ein rundes Buch gelungen, das die wichtigsten Themen anspricht. „Familienjahre“ geht nicht unbedingt zu sehr ins Detail, bietet aber einen schönen Leitfaden für Eltern mit ein paar wichtigen Grundsätzen, die ich Euch mit meiner Rezension hoffentlich näher bringen konnte.
Jetzt bin ich gespannt, ob Ihr das Buch selber gerne lesen würdet oder ob Ihr es schon kennt und wenn ja, wie Ihr es gefunden habt. Kommentiert gerne! 🙂