Maria Montessori mit einem Kind

Montessori im Alltag mit Kindern

Die Montessori-Pädagogik ist den meisten Eltern ein Begriff. Doch was steckt dahinter? Wie lassen sich die Prinzipien von Montessori im Alltag umsetzen und welche Materialien braucht es dafür? Ich habe Maria Roth befragt, die während ihrer Ausbildung direkten Kontakt zum Sohn Montessoris hatte und heute andere in der Pädagogik in München unterrichtet.

Wer war eigentlich Maria Montessori?

Maria Montessori mit einem Kind
Maria Montessori mit einem Kind. Quelle: AMI.org

Sie war Ärztin, Reformpädagogin, Philosophin und Philantropin. Geboren 1870 in Italien, galt das Interesse ihrer wissenschaftlichen Arbeit den geistig behinderten Kindern, für die sie Hilfmittel entwickelte. Aus dieser Arbeit entstand später ihr pädagogisches Konzept.

Frau, Roth, was bedeutet für Sie Montessori?
Maria Roth: Je länger ich diese Pädagogik erlebt habe, desto mehr habe ich verstanden, dass sie das Kind mit seinen natürlichen Lernfähigkeiten sieht. Und wie mir Renilde Montessori, Enkeltochter Marias, gesagt hat: jedes Kind braucht unsere Unterstützung im Aufbau seiner Person.

Dem Kind helfen, sein Potential zu finden

Sie haben mit Mario Montessori, Marias Sohn, und mit ihren Enkelkindern zusammengearbeitet. Wie waren sie?
Mario war wie ein väterlicher Freund zu mir, wie ein Opa. Er war bei meiner Prüfung und ich fragte ihn, warum ich das Diplom bekomme, da ich nicht alles wusste. Seine Antwort: „Ich habe dich gebeten, weiter zu machen und das hast du. Und du wirst weiterhin überlegen, wie die Ideen meiner Mutter zu verstehen sind.“

Was war das Zentrale, das Ihnen mit auf den Weg gegeben wurde?
Nicht die staatlichen Ideen sind für die Entwicklung von Bedeutung, sondern die Natur eines jeden Kindes. Wir müssen dem Kind dabei helfen, das eigene Potential zu finden und dieses weiter aufzubauen. Ich muss mir Gedanken machen, wie ich dies tun kann. Wenn es klappt, mache ich weiter. Wenn nicht, überlege mir etwas anderes. Diese Freiheit und Verantwortung hat mich stark gemacht, aber auf der Grundlage von medizinischem Wissen. Denn darauf basiert diese Pädagogik.

Montessori AMI
„Mit Montessori sind Kinder frei, aktiv in ihrem eigenen Tempo zu lernen.“

Wie unterscheidet sich Montessori von ähnlichen pädagogischen Konzepten wie Waldorf, Steiner oder Pikler?
Vielen geht es um das Kind und seine Entwicklung. Doch oft geht der Erwachsene von seiner Sichtweise aus. Das Kind hat eine ganz andere Lernwelt als der Erwachsene. Montessori hat die vier Entwicklungsstufen aufgezeigt, die man heute kennt, und trotzdem werden sie nicht beachtet. Auf der 1. Stufe steht der Aufbau der kindlichen Person, und zwar von Anfang an. Nicht erst dann, wenn das Kind bewusst lernen kann.

Montessori war für alle Ideen offen

„Beisst“ sich Montessori mit anderen Konzepten oder gibt es durchaus Überschneidungen o.ä.?
Montessori selbst war für alle Ideen offen. Sie wollte Diskussionen, äusserste sich manchmal sehr „krass“, damit die Leute wach wurden. Sie hat gerne Rollenspiele gemacht, Karten- und Brettspiele, Märchen erzählt. Es gab selbstverständlich auch Puppen. Alles, was die Kinder liegen gelassen haben, hat sie aus der Gruppe entfernt und übrig blieb das Montessori Material, wie wir es heute kennen. Wir müssen den Kindern das geben, was in ihrer Umgebung ist und was sie für die Anpassung an diese brauchen. Kinder wollen das tun, was sie bei den Erwachsenen sehen. Sie wollen es selbst tun und verstehen.

Denken Sie, dass Montessori in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebte und falls ja, was könnte der Grund dafür sein?
Ja, im Laufe der Jahre wurde diese Pädagogik immer beliebter, weil sie den Kindern das gibt, was sie brauchen. Zentral sind die sensiblen Perioden (bestimmte Fähigkeiten werden zu bestimmten Zeiten mit grösster Freude und Perfektion gelernt wie sonst nie wieder). Das gilt für alle Kulturen und Nationen, für alle Kinder auf der Welt! Leider haben wir dies lange nicht beachtet und immer wieder gesagt: das kommt später!

Kinder sollen das lernen, was sie möchten

Dann war die Lernfreude vorbei und es wurde zur Last. Schreiben wollen die Kinder im Alter von 4-4,5 Jahren, nicht wenn sie in die Schule kommen. Im Alter von 5 Jahren wollen die Kinder den sichtbaren Buchstaben und lesen, aber nicht schreiben! Inzwischen wissen wir, dass das Kind vor Eintritt in die Schule nicht «nur spielt», sondern lernt. Kinder brauchen die Freiheit für das, was sie gerade lernen möchten. Wenn wir ihnen diese Freiheit geben, dann funktioniert auch die Inklusion.

Montessori findet bei vielen Eltern einen grossen Anklang. Was raten Sie Eltern, die es mit ihren Kindern umsetzen möchten?
Eltern sehen und erleben ihre Kinder von Geburt an. Sie erleben, dass Kinder schon im jungen Alter sehr viel lernen, wenn auch erst unbewusst. Eltern freuen sich über all das, was ihre Kinder neu erlernt haben und lassen sie weiter lernen. Dazu empfehle ich den Film „Das Prinzip Montessori – Die Lust am Selber-Lernen“ (2018). Eltern spüren, wenn ihr Kind etwas lernen will, aber sie müssen es auch zulassen. Kinder wollen die reale Welt erforschen. Das künstliche Spiel mit von Erwachsenen ausgedachtem Spielzeug ist nicht genug.

Die Präsentation des Materials ist wichtig

Welche Einstellung sollte man für Montessori mitbringen?
Dem Kind Freiheit geben, um unabhängig zu werden im Tun und Denken. Auch Vertrauen ist notwendig, denn wir wissen nicht, was das Kind lernt. Es ist sein Geheimnis.

Bedarf es für Montessori spezielles Material?
Baby spielt mit Montessori Spielzeug aus Holz wooden toys Ja, Montessori selbst hat Material entwickelt. Sie hat es aber auch wieder verworfen (Entwicklung der Glocken) oder verändert (Einsatzzylinder, Symbole im Sprachbereich). Montessori sagte, dass das Material nur so gut sein kann, wie der Pädagoge, der es zeigt, sodass die Energie des Kindes sofort auf den richtigen Weg gelenkt und damit das Lernziel erreicht werden kann.

Und wie sind Ihre Erfahrungen?
Nach fast 50 Jahren Arbeit mit dem Montessori-Material halte ich es für noch wichtiger, wie es präsentiert wird. Damit die Freude am Entdecken und zur Wiederholung geweckt wird. Je besser der Pädagoge/die Pädagogin den Wert des einzelnen Materials und seine Reihenfolge versteht, desto wertvoller ist das Erreichen der Lerninhalte.

Lern-Material nach Alter des Kindes

Wie wird Montessori dem Alter des Kindes angepasst?
Montessori hat selbst festgelegt, in welchem Alter und wie (vorbereitet) ihre Materialien angeboten werden sollten, damit ein Kind selbst/frei entscheiden kann. Dazu gibt es die AMI Kurse für die verschiedenen Altersstufen:

  • 0-3 Jahre (im Vordergrund steht das unbewusste Lernen)
  • 3-6 Jahre (bewusstes Lernen)
  • 6-12 Jahre (Nutzen der Vorstellungskraft und gemeinsames Lernen)
  • 12-18 Jahre (Lernen auf dem Bauernhof unter Anwendung der Lerninhalte der höheren Schule, aber mit praktischer Anwendung in der Gesellschaft, genannt Erdkinder)

Was sind relevante Themen oder typische Übungen für das Klein-, Kindergarten- und Schulkind-Alter?

  • Das Kleinkind hat vorbereitete Tische mit einfachen Sets für Aktivitäten zur Kreativität, aus dem alltäglichen Leben.
  • Das Kindergartenkind erhält Übungen des praktischen Lebens inklusive Höflichkeit, Gehen auf der Linie, Stille.
    • Sinnesentwicklung – Material für die verschiedenen Sinneswahrnehmungen.
    • Stimulation (Gleiches zusammen finden, Abstufen finden, Entfernungsspiele um die Merkfähigkeit zu trainieren).
    • Sprachmaterialien für die Bereiche Sprechen (Wortschatz, Lautspiele) und Schreiben: Sandpapierbuchstaben für das Kind im Alter von 3,5 Jahren mit dem auf die geistigen und manuellen Fähigkeiten, die zum Schreiben notwendig sind, vorbereitet wurde. Sowie Lesen: phonetisches Lesen, Lesen mit Besonderheiten, Funktion der Worte, Sätze.
  • Die geheime Drachenschule bastei Lübbe Das Schulkind hat sehr viele Lesematerialien, um sich Wissen anzureichern. Die Kinder beherrschen mit Eintritt in die Schule das Schreiben und Lesen, sodass jetzt der Wissensdurst gestillt wird und sie zugleich ihre Vorstellungskraft miteinbeziehen können. Dafür hat Montessori ganz andere Materialien entwickelt und die Kinder haben eine andere Lernfähigkeit wie das jüngere Kind.
  • Die Jugendlichen dürfen von zuhause weg sein, übernehmen Verantwortung für das Wachsen der Pflanzen, die Pflege der Tiere, verkaufen ihre selbst erzeugten Produkte, führen ein Hotel usw.

Muss, wer Montessori mit seinem Kind umsetzen will, besonders viel Zeit aufbringen?
Wenn ich mein Kind liebe, nehme ich mir Zeit und lasse es mitmachen. Natürlich dauert es länger, wenn ich meinem Kind die Möglichkeit gebe, dass es z.B. seine Schuhe selbst anziehen darf. Es geht immer schneller, wenn der Erwachsene anstelle des Kindes etwas für es erledigt. Aber wie soll es dann selbst die Bewegung und den Ablauf lernen? Das geht nur durch eigenes Tun.

Heute muss alles schnell und praktisch sein

Ich habe gelesen, dass in Montessori-Kitas bereits ab Laufalter mit der Sauberkeitserziehung begonnen wird. Können Sie das bestätigen?
Die Sauberkeitserziehung muss man auch aus medizinischer Sicht sehen, sie hängt mit der Muskulatur zusammen. Manche Kinder brauchen mehr Zeit, andere weniger. Aber es ist notwendig, dem Kind die Möglichkeit zu geben, auch ohne Windel gehen zu dürfen. Ich habe oft erlebt, dass dies Erwachsene nicht wollen.

Lernturm in der Küche Warum?
Heute muss alles schnell gehen oder es ist unpraktisch, z.B. wenn wir Auto fahren und anhalten müssten weil das Kind mal muss. Dasselbe machen wir aber auch beim Gehen. Wie oft werden die Kinder in den Buggy gesetzt und geschoben, damit es schnell geht? Damit es praktisch ist für uns? Solange, bis sich das Kind den Wunsch, selbst zu gehen, abgewöhnt.

Wo stossen manche Eltern bei Montessori an Grenzen?
Die grösste Unsicherheit ist, dass Eltern nicht wissen, was ihr Kind gelernt hat. Kinder lernen, ohne darüber zu sprechen. Für Kinder ist es selbstverständlich, zu lernen. Sie müssen es uns nicht erklären! Eltern sehen aber, welch «tolle» Kinder sie haben, wenn sie mit anderen Kindern zusammen sind. Sie haben ein Sprachvermögen mit Selbstvertrauen und Höflichkeit. Sie nutzen ihre Freiheit mit Verantwortung. Und es ist für uns Erwachsene oft schwer, die Handlung und Denkweise des Kindes zu verstehen.

Montessori in Teilen führt nicht zum Ziel

Gibt es noch etwas, das Sie sagen möchten?
Wenn wir die Montessori-Pädagogik anwenden möchten, dann müsste sie vollständig angeboten werden und zwar altersgerecht, wie Montessori selbst es festgelegt hat. Teile dieser Pädagogik führen nicht zum Ziel und wenn es nicht altersgerecht angeboten wird, langweilt sich das Kind. Ich danke Ihnen im Auftrag unserer Kinder.

Montessori im Alltag umsetzen – meine Tipps

  • Weniger ist mehr: 5-6 verschiedene Spielzeuge zur Auswahl reichen. Diese sind altersgerecht und interessieren das Kind gerade besonders. Sie werden regelmässig ausgetauscht
  • Natur als wichtiges Erlebnis: Der Natur gebührt einen ganz besonderen Platz. Sammelt, lernt, entdeckt, bewegt Euch gemeinsam. Nehmt die Schätze der vier Jahreszeiten mit nach Hause und gebt Ihnen einen besonderen Platz, z.B. am Jahreszeiten-Tisch.
  • Hilft mir, es selbst zu tun: das Kind in altersgerechte Aufgaben sowie alltägliche Tätigkeiten miteinbeziehen und ihm diese so präsentieren, dass es sie möglichst selbst tätigen kann. D.h. alles auf Höhe des Kindes (mit vielen IKEA-Möbeln und -Hacks ist das einfach und günstig möglich) und „Werkzeug“ in kindgerechter Grösse. Eine Matratze am Boden dient als Schlafplatz.
  • Gestaltung der Wohnbereiche für verschiedene Tätigkeiten: Kreativecke (zum Malen, Basteln etc.), Bewegungsmöglichkeiten (Sprossenwand etc.), einladende Spielfläche und Kuschelecke mit Büchern.

Über Maria Roth

Maria Roth, München, AMI
Maria Roth, Bild zVg

Maria Roth baute diverse AMI (Association Montessori Internationale) Trainingscenter auf. Sie leitet u.a. das Zentrum in München und unterrichtet dort Erwachsene in der Montessori-Pädagogik. Den ersten Kontakt zu Montessori hatte sie in ihrer staatlichen Erzieherausbildung. Sie wollte die Richtigkeit ihrer Ausbildung überprüfen. Als sie diese abschloss, besuchte sie einen Workshop in Montessori. Dort erfuhr sie von einem Jahres-Kurs, denn an einem Wochenende kann man die Fülle dieser Pädagogik nicht annähernd vollständig weitergeben.

Montessori fast aus erster Hand

Dieser Kurs wurde von drei Personen geleitet: Margarete Aurin, Schülerin Maria Montessoris, Mario Montessori, Sohn Maria Montessoris, und Prof. Theodor Hellbrügge, Kinderarzt auf der Suche nach einer Pädagogik, die für die Integration von verschiedenartig und mehrfach behinderten Kindern zu nicht behinderten Kindern geeignet ist. Die damals 20-jährige Maria Roth nutzte diese Möglichkeit, um praktisch aus erster Hand die Montessori-Pädagogik zu erfahren.

Mehr: Association Montessori Internationale (AMI) in Amsterdam

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