Gastbeitrag von Rita Messmer Pädagogin über Erziehung

Tschüss Erziehung, hallo Biologie!

Rita Messmer ist vor allem durch ihr Buch „Ihr Baby kann’s“ und dem Windelfrei-Konzept, das sie in die Schweiz „brachte“ und bis heute prägt, bekannt. Die Autorin, Mutter, Pädagogin und Craniosacral-Therapeutin mit eigener Praxis in Bern, sollte mir zum Thema Erziehung ein paar Fragen beantworten. Daraus entwickelte sich allerdings ein längerer, aber sehr interessanter Gastbeitrag…

Wie wir unsere Kinder begleiten, das ist eines der ganz grossen Themen der Gesellschaft und vor allem bei Eltern. Zahlreiche Ratgeber, verschiedenste „Erziehungs-Richtungen“, der eigene Rucksack aus der Kindheit und die Geschichte prägen diese Diskussion. 

Müssen wir überhaupt „erziehen“?

Rita Messmer über das soziale Nervensystem
Rita Messmer. Bild zVg.

Von autoritär über bedürfnisorientiert bis zu unerzogen… Und doch gibt es kein Konzept, das immer für alle passt, da Kinder und Familien höchst individuell sind. Müssen wir überhaupt „erziehen„? Rita Messmer plädiert für einen Ansatz aus der Biologie. Sie schreibt:

„Dass heute viele Eltern überfordert und frustriert sind, weil ihre Kinder sich nicht so verhalten, wie sie es sich vorgestellt haben, sehe ich nicht nur  in meiner Praxis. Das Problem: die Eltern übernehmen keine Führung mehr. Doch das ist nicht von der Biologie vorgesehen und sorgt bei Kindern für jede Menge Stresshormone.

Ihnen fehlen Orientierung, Halt und Sicherheit. Aber um unsere heutige Situation besser verstehen zu können, müssen wir zuerst zurückblicken:

Erziehung in der Geschichte

Mitteleuropa hat, was Kinder anbetrifft, zweifellos eine leidige Geschichte: Kinderfeindlichkeit, die Schwarze Pädagogik, Unterdrückung, Repression, Gewalt. Dieser folgte ein autoritärer Erziehungsstil, der dann von Reformpädagogen wie Montessori, Piaget, Pestalozzi, Fröbel usw. abgelöst wurde.

Es war eine Pädagogik, die vom Kinde ausging, in der aber die Eltern eine klare Führungsrolle innehielten. Dann kamen die 68-er Jahre mit der antiautoritären Erziehung, dieser folgte die kumpelhafte, und heute sind wir bei der bedürfnisorientierten Erziehung gelandet. Man sieht, das Pendel schwingt von einer zur anderen Seite.

Jetzt „beamen“ wir uns in Mitteleuropa einmal zurück. Da war zu früheren Zeiten in unserer Kultur viel Unverständnis, wenig Wissen, viel Aberglauben, noch mehr Angst und Obskures, das wird kaum jemand bestreiten. Kinder zu bekommen war oft kein Segen, sondern eher Fluch:

Harte Zeiten für Kinder und Frauen

Wie bekommt man die alle satt? Empfängnisverhütung – ein Fremdwort. Die Frauen ohne Rechte und abhängig von ihren Männern. Nahrung musste hart erarbeitet werden – sie war keine Selbstverständlichkeit und ging allzu oft auch noch zugrunde.

Es waren ganz klar harte Zeiten. Dann war da noch die Religion und damit verbunden eine grosse Körper- und Frauenfeindlichkeit.

Eltern wollen grundsätzlich für ihre Kinder nur das Beste. Das heisst, die meisten Eltern wollen ihren Kindern eine bessere Kindheit bescheren: Sie sollen es mal besser haben. Aber was ist besser? In meinen Augen zeigt bereits dieser Anspruch, es besser machen zu wollen, dass wir biologisch nicht im Gleichgewicht sind.

Die Biologie ist ein Kontinuum

Die Biologie kennt diesen Anspruch nicht – sie kennt ein Kontinuum: Es bleibt sich alles gleich, denn so wie es ist, ist es richtig und daher gut. Wenn Veränderung geschieht, dann nur graduell und sehr langsam und minim.

Die Reformpädagogen läuteten ein neues Zeitalter ein: Sie stellten fest, dass das Kind Bedürfnisse hat. Dass es Zuwendung braucht, dass es sich besser entwickelt, wenn sein Umfeld andere, das heisst bessere Bedingungen schafft.

Sie erkannten, dass das Kind nicht erst „gut gemacht“ werden muss, dass es aus sich heraus gut ist, wenn die Bedingungen gut sind.

Aber wie der Mensch halt so ist, meint er, es immer noch besser machen zu müssen/können. Wir müssen uns fragen: Was sind gute Bedingungen? Genau das ist der Boden, auf dem dann alle möglichen Theorien keimen.

Zuwendung, Aufmerksamkeit und Körperkontakt

Man hat verstanden, dass das Kind z.B. Zuwendung, Aufmerksamkeit und Körperkontakt braucht, um sich gut entwickeln zu können. Unsere Gesellschaft tendiert dazu, alles zu bewerten, insbesondere in positiv und negativ, und dabei wird meistens übersehen, dass nicht die Menge, sondern das Mass ausschlaggebend ist!

Eine Pflanze braucht zum Wachsen Wasser. Aber ist es dann richtig zu sagen, dass möglichst viel Wasser gut ist? Womöglich geht sie zugrunde, wenn man sie zu viel giesst… Und das ist das Problem bei den heutigen Erziehungsstilen!

Bedürfnis- oder bindungsorientiert“ klingt attraktiv und überzeugend: Das Baby, das so unschuldig, schutzbedürftig, klein, abhängig auf die Welt kommt, rührt uns an – zu Recht.

Vorbild der traditionellen Kulturen

Stillen, Tragen, Familienbett, windelfrei etc. haben längst Einzug in unsere westliche Kultur genommen. Dieses Verhalten wurde aber nicht in den Industrienationen entwickelt, sondern wir haben es von indigenen und traditionellen Kulturen übernommen.

Deshalb erstaunt es mich, dass wir dann da nicht auch genauer hinschauen, wenn es darum geht, wie sie sozial mit ihrem Nachwuchs umgehen.

Dass sie beispielsweise nie Erklärungen abgeben, dass es keine schreienden und trotzenden Kinder gibt, dass Kinder nie Erwachsene stören, dass sie hilfsbereit und kooperativ sind, dass es keine streitenden Kinder gibt u.v.m. und dass dieser Umgang mit ihrem Nachwuchs sich in all diesen Kulturen wie ein Ei dem andern ähnelt.

Das soziale Nervensystem

Dass dafür nur ein soziales Nervensystem verantwortlich sein kann, das diese entsprechenden Signale sehr genau einordnen kann – scheint mir deshalb mehr als sicher. Eltern müssen also lernen, wie diese Signale aussehen.

Zuwendung ist gut, aber ist viel Zuwendung besser? Aufmerksamkeit ist gut, aber ist viel Aufmerksamkeit besser? Das Leben hat immer zwei Seiten! Sobald wir eine favorisieren, fallen wir aus dem Gleichgewicht.

Viele Eltern sind heute der Ansicht, dass möglichst viel Zuwendung und Aufmerksamkeit für das Kind wichtig und richtig sind. Aber stimmt das? Viele Mütter haben mir schon gesagt, dass sie ein schlechtes Gewissen hätten, wenn sie sich nicht dauernd mit ihrem Kind beschäftigen würden.

Wir müssen unsere Kinder nicht ständig bespassen

Schauen wir uns das doch mal differenzierter an: Du spielst mit dem Kind – für das Kind musst du so handeln. Aus biologischer Sicht betrachtet, können Eltern nicht anders handeln, folglich ist vom Kind her das Handeln der Eltern immer richtig – auch wenn es falsch ist!

Das Kind wird das also nicht zurückweisen, es wird sich aber auch nicht darüber freuen, im Sinne: „Oh, was hab‘ ich doch liebe Eltern.“ Es ist einfach so und so muss es sein. Was macht jetzt aber das Gehirn des Kindes? Es schaut zu, schaut ab und lernt.

Kinder lernen fortwährend. Sie müssen ja alles vernetzen, was da passiert – so lernen sie das Leben kennen. Es lernt also: die Mutter hat für mich da zu sein. Sie nimmt das Spielzeug so in die Hand, sie macht das so und jenes so. Und falls die Mutter keine Lust mehr hat zu spielen oder sich z.B. dem Haushalt zuwendet, wird das Kind protestieren.

Das Kind entwickelt sein eigenes Spiel

Warum? Das Kind hat seine ganz eigene Bewertung, die lautet: Aufmerksamkeit – und wenn es diese verliert, wird es darum kämpfen. Das frustriert viele Eltern, weil sie sich ja gerade so gut mit dem Kind beschäftigt haben. Aber es ist eine natürliche Reaktion des Kindes.

Spielt die Mutter aber von Anfang an nicht mit ihrem Kind, sondern widmet sich ihren Aufgaben, das Kind in ihrem Umfeld, so wird es sich sehr schnell etwas zum Spielen suchen und sich damit beschäftigen, denn es wird von der Biologie dazu angetrieben.

Es wird selber herausfinden, was sich alles mit diesen Gegenständen anstellen lässt. Es entwickelt sein eigenes Spiel und ist dabei kreativ und innovativ. Denn es hat keine Vorgaben, die es sich von den Eltern abgeschaut hat. Kreativität und Lösungen finden wecken im Körper ganz andere Botenstoffe aus, als wenn wir „nur“ etwas kopieren.

Sich nicht vom Kind fremdbestimmen lassen

Es sind die Botenstoffe, die uns Glücksgefühle bereiten und zu noch mehr anstacheln. Dass die Mutter jetzt nicht mit ihm spielt, bewertet es nicht als negativ, denn es fühlt sich in ihrer Nähe sicher und sie macht, was sie biologisch tun muss – ihre Arbeit.

Ich will damit nicht sagen, dass man nie mit dem Kind spielen soll, aber es soll begrenzt sein. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Die Eltern suchen mich auf, weil ihr 22 Monate altes Mädchen zunehmend schwierig wird, viel schreit und andere Kinder in der Kita beisst – ohne erkennbare Ursache.

Kaum sind die Eltern eingetreten, fängt der Vater an, sein Kind zu bespassen. Ich frage nach, ob er das jetzt wirklich tun wolle, oder ob er es mache, damit sein Kind jetzt keinen Zoff macht. Ich sehe, der Vater ist ob der Frage überrascht, er denkt kurz nach und gibt dann zu, dass er es macht, um sein Kind bei Laune zu halten.

Schlussfolgerung: Er lässt sich von seinem noch nicht zweijährigen Kind fremdbestimmen. Eine fatale Erfahrung für sein Kind!

Babys dürfen weinen

Viele Eltern sind der Ansicht, ihr Baby dürfe unter keinen Umständen weinen, weil sie Weinen negativ bewerten. Das aber ist einfach nur Unsinn! Im Internet sind zahllose Berichte darüber, dass man das Baby nicht weinen lassen soll/darf. Stimmt das?

Weinen ist biologisch ein Signal, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein sehr wirksames Signal und wichtig! Wieso soll ein Baby dann nicht weinen? Es ist, als ob ich jemandem untersage, zu sprechen.

Eltern sollten das Weinen nicht negativ betrachten, sondern es als wirksames Signal werten, um herauszufinden, was damit ausgedrückt werden will.

Ist es Hunger, dann sollte ich etwas zu essen anbieten, bei Müdigkeit das Baby zur Ruhe bringen. Aber vielleicht hat das Baby auch sehr viel Spannung und möchte diese mit Weinen abbauen (Tränen enthalten Stresshormone, die so ausgeschieden werden).

Weinen hilft, Spannungen loszuwerden

Weinen gehört zum regulativen System, das hilft die Homöostase (Gleichgewicht) wieder herzustellen.

Wenn ich ihm in diesem Moment meine Brust gebe, wird es später vielleicht, wenn es Spannungen hat, zur Schokolade, oder wenn ich das Weinen mit einem Schnuller abstelle, zur Zigarette greifen…

Dann ist es sicher sinnvoller, es einfach nur in den Arm zu nehmen und das Weinen zuzulassen, zuzuhören. Es soll und darf seine Spannungen mit Weinen ausdrücken und loswerden. Wir müssen lernen, die Dinge differenzierter anzuschauen.

Sicherheit ist das höchste Bedürfnis

Und dann wäre da noch die Sicherheit und Unsicherheit. Das höchste Bedürfnis eines jeden Lebewesens ist Sicherheit. Folglich sagt die Biologie dem kleinen Erdenbürger: Bei Unsicherheit sofort Ton angeben! Was macht das Baby? Es fängt sogleich an zu weinen, wenn es sich unsicher fühlt.

Aber alles Mögliche löst dieses Verhalten aus: beispielsweise eine tiefe Männerstimme, Pyjama anziehen, ein fremder Raum usw. Und da sind nicht Hektik oder ein Schnuller gefragt, sondern schlicht und einfach ein klares internationales Signal auf das sensible soziale Nervensystem des kleinen Erdenbürgers, und das wäre: „Bschschsch, es ist alles gut!

Die Biologie ist umfassend und vielschichtig. Man kann sie nicht einfach auf einen Nenner bringen und nur aus einer Sicht betrachten. Dinge, die wir als positiv empfinden, müssen sich nicht notgedrungen für andere genauso anfühlen.

Über negative Bewertungen

Nehmen wir einmal das Wort Frustration: Damit verbinden wir sofort eine negative Emotion. Wir sprechen in der Erziehung dann oft von Frustrationstoleranz. Das hat mich in Bezug auf Kinder immer gestört. Ich habe dann vorgeschlagen: Ersetzen wir Frustration einfach einmal durch das Wort: Anreiz! Denn biologisch gesehen ist es das:

Man steht vor einem Problem, einer Ursache, einer Herausforderung, die es nun zu überwinden gilt. Es gibt da etwas, was sich nicht einfach so ergibt, ohne Aufwand, ohne Anstrengung – halt einfach so. Es fordert mich also heraus. Wieso ist das schlecht? Wieso also das Wort Frustration?

Wäre Anreiz nicht der adäquatere Ausdruck? Denn jetzt muss ich mich anstrengen, um eine Lösung für das Problem zu finden. Und wenn ich die Lösung gefunden habe, was ist dann? Wie fühlt sich das an? Welche Glücksgefühle durchströmen dann meinen Körper?

Hindernisse nicht aus dem Weg räumen

Jedes Mal, wenn etwas gelingt, wir etwas Neues gelernt, eine neue Erfahrung gemacht haben, werden wir von unserem inneren Motivator dafür belohnt: Es fühlt sich einfach gut an. Aber dieses Gefühl erfahre ich nur, wenn ich es aus mir selber heraus geschafft habe, nicht, wenn mir andere den Weg dazu abgenommen haben!

Warum lösen wir gerne Rätsel? Weil wir die Lösung kennen, oder weil es uns herausfordert? Neugier ist ein starker Motivator. Lehren wir die Kinder, auf den Stolpersteinen des Lebens zu tanzen.

Wenn ich nicht will, dass mir jemand Vorschriften macht, heisst das noch lange nicht, dass das für mein Kind ebenso gilt. Wenn wir schlechte Erfahrungen mit einem, den man Führer genannt hat, im Kopf haben, bedeutet das nicht von vornherein, dass Führung per se schlecht ist.

Kinder brauchen Führung, Anleitung

Und wenn uns das Wort Führung missfällt, könnten wir es durch Anleitung ersetzen. Nicht die Wörter sind das Problem, sondern was wir daraus machen! Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung Vorbilder, Führung und Anleitung – das gibt ihnen Orientierung, Halt und somit Sicherheit.

Das Kind sucht bei seinen Eltern Sicherheit! Sicherheit ist das höchste Gebot in der Biologie und das höchste Bedürfnis eines jeden Lebewesens überhaupt.

Wenn Eltern meinen, ihr Kind solle nicht fremdbestimmt (negativ) sein, sondern selber wählen können (positiv), übersehen sie, dass das biologisch fatal ist und zugleich schnell eine Rollenumkehr stattfindet, wie in obigem Beispiel.

Nicht immer eine Wahl bieten

Fragen Elternvögel den Jungwuchs, was sie essen wollen? Biologisch gesehen, wissen Eltern immer haargenau, was ihr Nachwuchs für eine gute und gesunde Entwicklung braucht. Sie können nicht anders, denn sie sind genetisch so programmiert.

Vögel, die später nur noch Samen picken, versorgen ihren Jungwuchs mit dicken Raupen, weil diese Nahrung für die Entwicklung der Jungen essentiell ist.

Was zeichnet also Eltern in der Biologie aus? Sie sind sich absolut sicher! Sie zögern nicht. Sie zeigen nicht, dass es eine mögliche Wahl gibt. Und genau davor scheuen sich heute viele Eltern. Jean Liedloff („Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“) beschreibt, wie eine indigene Mutter durch den Dschungel geht und sich nicht nach ihrem Kind umdreht.

Der Nachfolgewillen

Das einzige, was sie tut: Sie passt ihr Tempo entsprechend an, sodass das Kind mit seinem Nachfolgewillen das Nachkommen schafft. Eine Mutter in meiner Praxis findet das grausam. Das ist ihre persönliche Bewertung – aber nicht jene der Natur. Sie will ihrem Kind nichts zumuten und damit traut sie es ihm auch nicht zu.

Und so verwehrt sie ihm das Glücksgefühl, das man empfindet, etwas aus eigener Kraft geschafft zu haben. Die andere Mutter (ver)traut ihrem Kind, dass es das schafft, denn sie verhält sich genau so, dass es ihm gelingt. Das sind wichtige Voraussetzungen für ein funktionierendes soziales System.

Anmerkung von Mama mal 3: Natürlich sollte man einem Kleinkind nicht neben einer viel befahrenen Strasse ohne Blickkontakt voraus laufen wie eine Mutter im Urwald. Es kommt auf die generelle Haltung an.

Falsche Impulse sorgen für Stress

Dafür ist das schon erwähnte soziale Nervensystem verantwortlich. Unser Gehirn hat sich über Jahrmillionen der Evolution aufgebaut. Es ist darauf programmiert, die richtigen Impulse zu bekommen. Je kleiner das Kind ist, desto wichtiger sind diese Impulse, denn Abweichungen davon verursachen Irritationen, und Irritationen führen zu Stress.

Die Folge: Das Kind schreit und wird renitent. Viele Eltern vergessen, dass das Kind noch kein kognitives Wesen ist. Es ist biologisch gesteuert und nicht kognitiv. Mit Erklärungen und langen Vorträgen kann es nichts anfangen. Das Verhalten der Eltern zählt.

Deshalb sind die von der Natur verstandenen Impulse, die die Evolution so aufgebaut hat, immens wichtig. Es will sich sicher fühlen. Es will Eltern, die führen – richtig führen.

Richtig führen – was heisst das?

Lasst mich eine Metapher machen. Du willst einen Berg besteigen und nimmst dir deshalb einen Bergführer. Dieser wird dein Können einschätzen, deine Kondition überprüfen, mit dir anschauen, welcher Berg in Frage kommt. Er wird dafür sorgen, dass du das richtige Schuhwerk, das richtige Material hast. Dann wird er die Route wählen.

Er sagt: Um 4 Uhr morgens geht es los. Er wird dir sogar in den Rucksack schauen und unnötigen Ballast zurücklassen, dafür Dinge, die wichtig sind, einpacken. Wenn du mit Flip-Flop aufs Matterhorn willst, wird er dich abweisen.

Vertraust du dich einem solchen Bergführer an? Oder möchtest du lieber einen, der auf dein Jammern hin, nicht so früh loszuziehen, nachgibt? Der dich fragt: Sollen wir lieber da übers Schneefeld oder dort? Ah, du würdest jetzt doch lieber noch länger Pause machen usw.

Wie fühlst es sich an, einen solchen Bergführer zu haben? Vertraust du da? Gibt es dir Sicherheit? Führen, klar und sicher sein, Leitwolf sein, ist für eine gesunde Entwicklung unserer Kinder essentiell. Erst das gibt ihnen Orientierung und den Halt, den sie bei uns suchen.

Soziale Systeme 

In der Natur hat jedes soziale System eine klare hierarchische Struktur. Erst das ermöglicht das Überleben aller. Das Kleinere passt sich dem nächst grösseren System an: das Kind den Eltern, die Eltern der Gemeinde, die Gemeinde dem Kanton, der Kanton dem Staat.

Gerade die jetzige Coronakrise zeigt, wie wichtig es ist, dass soziale Systeme funktionieren. Nur so sind wir überlebensfähig. Also nehmt eure Kinder ans Seil, führt, seit Leitwolf, scheut euch nicht. Eure Kinder und die Gesellschaft werden es euch danken.“ 

Leitfaden für den biologischen Ansatz

Wie also sollen sich Eltern ab Geburt verhalten? Werfen wir mit Rita Messmer einen Blick auf indigene Völker:

„Es gibt viele Kulturen, die für Mutter und Baby für drei Monate einen „Schutzraum“ schaffen. In dieser Zeit kann sich die Mutter voll auf ihr Baby einlassen und wird von anderen Arbeiten entlastet. Das ist die Zeit, in der sich das Baby als noch nicht getrennt von der Mutter empfindet.

Es sendet Signale, die Eltern reagieren verlässlich darauf und erfüllen die Bedürfnisse, Bindung kann stattfinden.

Vom Ich zum Du

Danach werden seine Sinneswahrnehmungen zunehmend so stimuliert, dass es sie nach aussen richtet. Somit nimmt es langsam wahr, dass es ein eigenständiger Mensch ist.

Es lernt, seine ganzen Sinneswahrnehmungen auf die Mutter auszurichten. Sie ist in dieser Phase die Hauptbezugsperson des Säuglings. Ihre Signale sind überlebenswichtig und – sichernd! (Anm. v. Mama mal 3: natürlich kann das auch der Vater oder eine andere Person sein, die sich hauptsächlich kümmert.)

Sobald das Kleinkind anfängt zu krabbeln, sollte es vollkommen aufs Du ausgerichtet sein. Denn jetzt braucht es von ihm klare, überlebenssichernde Signale. Denn die Biologie hat weder Schutzräume vorgesehen, noch, dass die Eltern das Junge von Gefahren wegnehmen. Die Biologie arbeitet mit Signalen.

Mit Verhalten und Signalen anleiten

Und da auch das Gehirn des kleinen Homo sapiens archaisch funktioniert, müssen Eltern wieder diese Sprache lernen – das heisst, mit dem richtigen Verhalten und den richtigen Signalen ihre Kleinkinder anleiten.

Weil dies in einem frühkindlichen Stadium passiert, sind diese Stimulationen wegweisend und prägend. Sie sind also tiefgreifend und können nicht einfach so umgelernt oder umprogrammiert werden. Es ist analog der Muttersprache geprägt – wir können auch nicht plötzlich chinesisch sprechen.

Das heisst, der Säugling ist auf die Mutter als Überlebenssicherung geprägt, er nimmt ihre Signale auf und folgt ihr bereitwillig. Es gibt kein Wenn und Aber – keine Kognition, die sich dem widersetzt – das geschieht alles präkognitiv. Denn es geht hier um die entsprechende Prägung und Biologie.

Biologie ist wertfrei

Es ist einfach so, es gibt biologisch keinen anderen Weg – er ist der einzige, sicherste und beste. Merke: Biologie ist wertfrei. (Klein)kinder lernen über Verhalten/Signale, was erwünscht ist und was nicht. Ein „Nein“ empfinden sie nicht als Ablehnung.

Und nun kann man verstehen, wieso in diesen traditionellen und indigenen Kulturen Kinder sich ihren Eltern nicht widersetzen.

Rita messmer

Weil dieses Verhalten einem genetischen Plan und folglich einem ursprünglichen menschlichen Bedürfnis entspricht, können wir jetzt auch verstehen, dass Kinder mit Stress reagieren, wenn Eltern keine klare Führung übernehmen.

Sie befinden sich konstant im „Kampf oder Flucht„-Modus (sympathisches Nervensystem) oder fallen sogar in die Immobilisation, Überwältigung.

Irritationen vermeiden

Wenn wir den Kindern hinterher laufen anstatt ihren Nachfolgewillen zu stimulieren, wenn wir sie von allen Gefahren fern halten und sie nicht eigene Erfahrungen sammeln lassen, führt das zu heftigen Irritationen.

Und dies führt zu der uns bekannten Renitenz bei Kleinkindern und Kindern. Erhalten Säuglinge und Kleinkinder aber eine sichere Führung durch entsprechendes Verhalten und klare Signale ihrer Bezugspersonen, fühlen sie sich sicher.

Das soziale Nervensystem, der ventrale Vagus, das parasympathische System, wird aktiv: Das bringt Verbindung, tiefer Kontakt, Orientierung, Entspannung – das Kind kann sich seiner Entwicklung, dem freien Spiel zuwenden. Es fühlt sich sicher, entspannt, lacht und spielt. Das sind die Kinder von denen ich rede.“

Ganz herzlich, 
Eure Rita Messmer

Meine Anmerkungen

Nach der Lektüre des ganz oben verlinkten Buchs von Rita Messmer habe ich versucht, einige Punkte umzusetzen. Doch längst nicht alle und nicht perfekt. Aber ich denke, das ist auch nicht der Punkt. Niemand ist perfekt und jedes Kind individuell.

Ich mache sicherlich viele Fehler, wer nicht? Aber ich glaube, so einiges kann ich mit meiner 3. Tochter bestätigen. Eine „Trotzphase“ (eher Autonomiephase) hatte sie so gut wie nicht. Wenn ich wie beschrieben mit Verhalten und Signalen (re)agierte, nahm sie das immer an.

Auch konnte und kann sie sich von allen meinen Kindern tatsächlich am besten selber beschäftigen und das auch sehr lange, während ich am PC bin und meine Arbeit erledige.

Ab und zu kommt sie zu mir auf den Schoss und geht wieder. Manchmal signalisiert sie klar, dass sie jetzt möchte, dass ich ihr z.B. ein Buch vorlese. Dann mache ich eine Pause und das ist OK so.

Was machst du daraus?

Rita Messmer ist offen für Fragen & Diskussionen. Jeder kann aus diesem Beitrag für sich mitnehmen, was er/sie möchte…

Pin it: Merke Dir meinen Beitrag gerne auf Pinterest…

Pin Gastbeitrag Rita Messmer Erziehung Biologie Kinder führen soziales Nervensystem
3 comments
  1. Super spannend, vielen Dank! Rita Messmer war mir mein Begriff – ich schaue direkt mal nach mehr von ihr 🙂

    1. Gerne! 🙂 Sie wird tatsächlich von anderen, bekannten Autorinnen kritisiert. Man muss ja nicht alle Aussagen von ihr mögen oder gut heissen, aber ich habe hier einfach einen Teil für mich mitgenommen und gemerkt, wie gut es „funktioniert“, ohne negativen Beigeschmack, den das Wort sonst haben mag… 😉

  2. […] Tschüss, Erziehung, hallo, Biologie! – Rita Messmer […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert